Edgar Einemann
Zum Buch „Der Noch-Kapitalismus. System im Wandel, nicht am Ende“.
Bremen 2023: Selbstverlag. Erhältlich bei amazon.de.
Die Idee
Das Buch referiert Erkenntnisse nach mehr als 50 Jahren der Beschäftigung mit der sozialwissenschaftlich gestützten politischen Gesellschaftsanalyse und stellt damit einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über „den Kapitalismus“ dar. Vermittelt wird ein tiefgehender und breiter Überblick.
Wer die Idee hat, die Gesellschaft gestalten zu wollen, Kritik an den herrschenden Verhältnissen übt und sich Gedanken über vergangene und zukünftige Strukturveränderungen macht, der sollte sich der Gesellschaftsanalyse zuwenden. Und wer dabei über den Kapitalismus redet, der sollte sich damit beschäftigen, was dieses Gesellschaftssystem ausmacht, wie es sich verändert hat, welche Vorstellungen es für dessen Überwindung gibt und ob ein baldiges Ende des Kapitalismus bevorsteht oder eher nicht.
Zum Inhalt
Auf Basis von gesellschaftstheoretischen Überlegungen werden Kernelemente des Kapitalismus und seine Veränderungen zum Spätkapitalismus analysiert. Diese vor über 50 Jahren gefundene Charakterisierung bedarf der Fortschreibung: die mit der Digitalisierung und dem Internet verbundenen Veränderungen („Netzwerkgesellschaft“) bewirken einen tiefgreifenden Strukturwandel. Diese und der inzwischen erfolgte globale Siegeszug des Kapitalismus legen es nahe, das momentan erreichte Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung als „digital vernetzten globalisierten Spätkapitalismus“ zu beschreiben.
Vor über 40 Jahren sind die negativen ökologischen Folgen des Fortschritts bei Technik und Wohlstand verstärkt in den Blick geraten und haben zu Diskussionen über ein (politisch gewünschtes) „qualitatives Wachstum“ geführt. In der letzten Zeit ist unter dem Eindruck des Klimawandels das Konzept eines „grünen Wachstums“ populär geworden und selbst aus ökologischer Perspektive in die Kritik geraten (mit dem Gegenkonzept eines „grünen Schrumpfens“).
Mit dem Kapitalismus unauflösbar verbunden ist die Existenz von Klassen, Schichten und Milieus mit einer sehr unterschiedlichen Beteiligung am gesellschaftlichen Reichtum. Resultate der Entwicklung der letzten Jahrzehnte sind zumindest für Deutschland die Herausbildung einer vermögenden Mittelschicht, die Verbesserung der materiellen Situation auch der unteren Schichten und die Ausdifferenzierung von politischen Orientierungen. Trotz aller Spaltungen und sozialer Probleme geht es heute mehr um die gerechte Verteilung des Reichtums als um die Bekämpfung des Mangels.
Reales Arbeiten und Wirtschaften findet an realen Orten statt - Städte und Regionen befinden sich als Innovationszentren in einer globalen Standortkonkurrenz und haben eine erhebliche politische Bedeutung.
In der staatlichen Politik können sich Kapitalinteressen in der Regel strukturell durchsetzen, aber der Staat ist keine Agentur des Kapitals. Demokratie und Freiheit sind Funktionsvoraussetzungen für die moderne Ökonomie, und es gibt Chancen für die weitgehende politische Gestaltung der Gesellschaft. Akteure mit Interessen an grundlegenden Veränderungen treffen allerdings auf hohe institutionelle Hürden und stoßen an die von der Systemvoraussetzung des Funktionierens der Wirtschaft gesetzten Grenzen. Die Medien sind ein zentrales Element der Demokratie, als „vierte Gewalt“ aber selber auch dank ihrer Wirkungen in der Kritik.
Diskussionen über die Überwindung des Kapitalismus gibt es so lange, wie es den Kapitalismus gibt. In der letzten Zeit haben eher revolutionäre Konzepte (Hardt/Negri), Ideen für ein grünes Schrumpfen (Herrmann) und Vorschläge für einen partizipativen Sozialismus (Piketty) eine gewisse Prominenz erreicht. Deren Würdigung bietet einen geeigneten Hintergrund für die kritische Betrachtung von System-Alternativen unter den Aspekten der Eigentumsverhältnisse (Staat/Privat), des Verhältnisses von Plan und Markt, der Globalisierung und der Umverteilung des Reichtums.
Historische Erfahrungen, der gesellschaftliche Strukturwandel und das Fehlen eines „revolutionären Subjekts“ lassen vermuten, dass es auch für den Fall einer nicht auszuschließenden dramatischen ökonomischen Krise zu keinem revolutionären Umsturz mit einer Abschaffung aller Kernelemente des kapitalistischen Systems kommen wird. Wahrscheinlich wird es auf der Welt für sehr lange Zeit Gesellschaftsordnungen mit unterschiedlichen Ausprägungen von Strukturen geben, deren Belegung mit einem zusammenfassenden Etikett schwierig ist. Die Entwicklung von Visionen einer wünschenswerten Zukunft und von Idealmodellen einer zukünftigen Gesellschaft sind durchaus sinnvolle (und in dem Buch nicht präsentierte) Projekte. Interessant ist die Frage, welche Veränderungen sich „hinter dem Rücken“ der Akteure durchsetzen und welche Strukturen einer zukünftigen Gesellschaft bereits heute erkennbar sind. Es ist nicht abzusehen, welchen Lauf die weitere Transformation nimmt und wann man von einer Überwindung des Kapitalismus sprechen kann. Deshalb ist die gegenwärtige Phase der Entwicklung am besten durch die Bezeichnung „Noch-Kapitalismus“ gekennzeichnet.
Zum politischen Lerneffekt
Wer das Buch liest, versteht die Hintergründe für viele Veränderungen bei ehemaligen 68er, Kommunisten und Sozialisten aller Schattierungen und ihren Weg von radikalen Linken zu demokratischen Öko-Kapitalisten. Helmut Kohl hat Demonstranten bei seinen Reden entgegengehalten: „Ja, schreien Sie nur, irgendwann werden auch Sie noch CDU-Wähler“. Viele wurden eher Wähler, Mitglieder oder Funktionäre von Grünen und der SPD – und damit Teil der Basis von Parteien, die für die CDU als Junior-Partner kompatibel waren bzw. sind. Das erklärt die deutsche Stabilität, die sozial auf der Verständigung von Kapital und Arbeit basiert (egal, ob man das „Sozialpartnerschaft“ oder mit Habermas „Pazifizierung des Klassenkompromisses“ nennt). Der Kapitalismus wird wahrscheinlich nicht zusammenbrechen und an Elend und Revolution zu Grunde gehen, sondern die Strukturen der (reichen) Gesellschaften und wohl auch seinen Charakter selbst weiter verändern. Er ist nicht das Ende der Geschichte. Die Mühe der Diskussion von politischen Gestaltungskonzepten und die Entwicklung von Zukunftsvorstellungen ist keineswegs überflüssig. Fundierte Analysen sind erforderlich, oberflächliche und verkürzte Beiträge zur provokativen Erregung von Aufmerksamkeit weniger hilfreich.
Näheres zur Person
Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Bremen (1971-75). Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Bremen (1975-1989), 1982 Promotion aus einem von der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft (DFG) geförderten Projekt an der Universität Bremen („Werftprojekt“, 1975-1980) heraus zum Krisenbewusstsein von Industriearbeitern. Danach Entwicklung und Erprobung von Konzepten für die politische Erwachsenenbildung, dann Hochschuldozent an der Uni Bremen. Von März 1989 bis zur Pensionierung im August 2018 Professor im Studiengang Informatik/Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Bremerhaven mit Schwerpunkt „Anwendungen und Auswirkungen des Einsatzes neuer Informations- und Kommunikationstechnologien“.
Politische Aktivitäten in der Bremer Schülerbewegung ab 1968, Mitglied der SPD von 1968 bis 2013. Viele ehrenamtliche Funktionen bei den Jungsozialisten und in der Partei, zuletzt im Bremer Landesvorstand. 1992/93 hauptamtliche Arbeit in der Bonner Parteizentrale der SPD (Abteilungsleiter Organisation) als befristet beurlaubter Professor. Nach dem Wechsel des Parteivorsitzes von Björn Engholm zu Rudolf Scharping Rückkehr an die Hochschule.
Beiträge von Edgar Einemann seit 1968 unter www.einemann.de.