Anderson, C. (2009).
FREE - kostenlos.
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Der amerikanische Journalist Chris Anderson (Studium der Physik und des Wissenschaftsjournalismus) hat lange bei der Wirtschaftszeitschrift The Economist gearbeitet und ist Chefredakteur des Internet-Magazins "Wired". Er hat nach seinem weit beachteten Buch "The Long Tail" ein weiteres Werk zur neuen Ökonomie des Internet geschrieben, in dem er sich mit dem Prinzip "Free" auseinandersetzt.
Es handelt sich um kein wissenschaftliches Werk; das Buch hat keine gut strukturierte Gliederung, es gibt viele Wiederholungen und häufig eine Mischung aus Phänomen-Beschreibungen und theoretischen Erkenntnissen. Nicht nur viele Zahlen sind unbelegt. Im Zuge der Diskussion hat Anderson eingeräumt, eine Vielzahl von Quellen nicht angemessen erwähnt zu haben - und einen Nachtrag geliefert, den er in seinem Blog veröffentlicht hat.
Dennoch lohnt die Beschäftigung mit diesem Werk, für das Anderson interessante Gespräche mit Praktikern geführt hat. Bedenkenswert ist eine Bemerkung in der Danksagung am Ende des Buches: "Auch Hal Varian, Chefökonom bei Google, hat mich in seiner wertvollen Zeit und durch seine Ausführungen viel mehr gelehrt als sämtliche meiner College-Professoren." (S.295). Da Professoren per Definition kluge Leute sind, lag das entweder an Andersons Studienfach (offensichtlich nicht Ökonomie) oder an seinem Studienzeitpunkt (zu dem das Internet noch nicht sehr verbreitet war). Mit neuen Praxiserfahrungen verändern sich auch wissenschaftliche Erkenntnisse - insofern trägt die genaue Analyse z. B. von Googles erfolgreichen Geschäftsmodell sicher auch zur Weiterentwicklung einer Theorie der Internet-Ökonomie bei.
Im Focus von Andersons Beschreibungen und Analysen steht das Phänomen der "Umsonst-Kultur" des Internet, die mit der Entwicklung von sehr profitablen Unternehmen verbunden sein kann. Anderson glaubt, dass früher oder später alle Produkte digital sein werden und der Preisverfall bei Prozessoren, Bandbreiten und Speicherkapazitäten zu derart sinkenden Grenzkosten führt, dass viele Produkte in einer Überfluss-Situation verschenkt werden (können). Gegen diejenigen, die etwas kostenlos liefern, haben kostenträchtige Vergleichsprodukte keine Chance.
Das Prinzip "Free" basiert entweder auf Quersubventionen oder/und es entstehen nichtmonetäre Märkte. Anderson beschreibt mehrere Ansätze der Quersubventionierung: Direkte Quersubventionen (ein Produkt gibt es kostenlos, ein anderes kostet Geld), den Drei-Parteien-Markt (z. B. Werbeeinnahmen finanzieren kostenlose Leistungen) und das Prinzip "Freemium" (neben kostenlosen Basis-Produkten gibt es kostenpflichtige "Premium-Produkte"). Auf nichtmonetären Märkten werden Produkte oder Arbeitsleistungen (z. B. Second-Hand-Produkte, Programmierung von Freeware) verschenkt. Neben der auf Geld fixierten Ökonomie entsteht eine Aufmerksamkeits- und Reputationsökonomie: Unternehmen interessieren sich für die Beachtung durch Menschen, und Menschen engagieren sich für ihr gutes Ansehen: "Wenn alle physischen Bedürfnisse erfüllt sind, wird das soziale Kapital zum wichtigsten Gut." (S. 246).
Auf den Seiten 149 bis 159 beschreibt Anderson Elemente des Strukturwandels von Wirtschaft und Gesellschaft und die Gefahren, die mit dem Prinzip "Free" verbunden sind. Das Internet ermöglicht Netzwerkeffekte: wenn man nur einen kleinen Prozentsatz von Milliarden von Nutzern erreicht, sind das in absoluten Zahlen um ein Vielfaches mehr Menschen als über viele "traditionelle" Medien erreichbar wären. In Internet-Märkten kann sich im Unterschied zu traditionellen Märkten leichter eine Struktur herausbilden, in der der Markführer 95% des Markvolumens und nicht 60% erreicht ("the winner takes it all"). Am Beispiel von Kleinanzeigen und Zeitungsnachrichten wird die Überlegenheit der kostenlosen Angebote von Internet-Unternehmen besonders deutlich - große Reichweiten und die zielgenaue Kundenansprache generieren hohe Werbeeinnahmen.
Anderson bezeichnet Google als eine "der größten Kostenreduzierungsmaschinen..., die die Welt je gesehen hat." (S. 149). Das Prinzip Free "wandelt milliardenschwere Branchen in millionenschwere um." (S. 154). Im Normalfall vermutet Anderson am Ende "wesentlich mehr Gewinner als Verlierer. 'Free' ist zerstöririsch, keine Frage, aber wenn sich der Staub gelegt hat, bleiben viele funktionierende Märkte zurück." (S. 155).
Allerdings bleibt ein Problem: "Jeder hat die Chance, ein Geschäftsmodell um 'Free' herum aufzubauen, doch nur die Nummer 1 verdient sich damit eine goldene Nase.... Wenn das digitale 'Free' den Branchen Geld entzieht, bevor es neuen Geschäftsmodellen gelingt, sie wieder ins Spiel zu bringen, gibt es nur noch Verlierer" (S. 156).
Anderson hat keinen wirklichen Begriff von Gesellschaft (muss er auch nicht haben, und kann er vielleicht auch gar nicht haben). Aber er dringt zur Beschreibung von Strukturveränderungen vor, die man (in älteren Kategorien) auch als Prozess der Steigerung der Produktivkräfte und der zunehmenden Vergesellschaftung (auf globaler Ebene) analysieren kann, der dem kapitalistischen Verwertungsmodell zunehmend den Boden entzieht.