Foto Edgar Einemann Prof. Dr. Edgar Einemann

Olaf Scholz: Der Marathon-Mann

Gerhard Schröder hat es innerhalb von 20 Jahren vom Chef der Jungsozialisten (1978) bis zum Bundeskanzler (1998) gebracht. Olaf Scholz wurde 1982 erstmals in den Bundesvorstand der Jusos gewählt, Bundeskanzler wurde er fast 40 Jahre später (2021) – am Ende eines Marathons über viele Stationen mit vielen Positionen in vielen Jahrzehnten.

Es gab vor einiger Zeit eine Story über Olaf Scholz in der Tagespresse, wonach er 1975 wegen Helmut Schmidt in die SPD eingetreten sei. In einer Vorstellung auf einer Internet-Seite der Bundes-SPD bestätigt er: „Helmut Schmidt war auch für mich eine prägende politische Persönlichkeit, die mich mit 17 Jahren in die SPD geführt hat“. Wenn das stimmen sollte (nach einer Meldung der BILD-Zeitung hat sein Vater ja Ende 2021 verraten, dass er schon mit 12 Jahren Bundeskanzler werden wollte), dann hat er bei den Hamburger Jungsozialisten am Ende der siebziger Jahre schnell gelernt, dass die wichtigste Aufgabe zunächst einmal in der grundlegenden Veränderung der SPD (und wohl auch der Ablösung von Helmut Schmidt) bestand. Bei den Hamburger Jusos dominierte eine auch im Juso-Bundesverband starke Strömung, die sich selbst als „Juso-Linke“ sah und als „Stamokap-Fraktion“ bekannt war. Sehr amüsant war damals eine Falschmeldung in der Presse: DER SPIEGEL hatte in einer Fußnote zur Stamokap-Fraktion die Erklärung zu bieten, das sei der Teil der Jusos, der in Deutschland den staatsmonopolistischen Kapitalismus einführen wolle. Richtig war das Gegenteil: der westdeutsche Kapitalismus wurde als „staatsmonopolistisch“ analysiert und sollte durch ein sozialistisches System ersetzt werden. Unbestreitbar ist, dass die theoretische Grundposition von „Stamokap“ wesentlich auf Konzepten basierte, die in Moskau und Ost-Berlin ausgearbeitet worden waren. Der interne Streit bei den Jusos bezog sich nicht nur auf die Theorie-Ansätze und die Einschätzung des „realen Sozialismus“ in Osteuropa (hierzu z. B. https://www.einemann.de/Stichworte/Stamokap.html), sondern auch auf die politische Praxis der möglichst engen Zusammenarbeit mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und deren Unterorganisationen. Olaf Scholz war einer der Wortführer des sogenannten Stamokap-Flügels bei den Jusos und repräsentierte ihn ab 1982 eine Zeitlang als stellvertretender Vorsitzender im Bundesvorstand der Jungsozialisten. 1985 hat er auf die Binnendifferenzierung dieser Gruppierung hingewiesen und mein kritisches Agieren einmal als „Meisterleistung ideologischer Herrrschaftstechnik“ qualifiziert (spw Nr. 27, S. 198).

Menschen sind lernfähig und kommen zu neuen Erkenntnissen, in deren Folge sie ihre politischen Positionen verändern – es ist falsch und unfair, solche Prozesse vorschnell als „Anpassung“ (ab) zu qualifizieren. Zu bundesweiter Prominenz gekommen ist Olaf Scholz als SPD-Generalsekretär (2002-2004) unter dem Kanzler und Parteivorsitzenden Gerhard Schröder – eine Rolle, in der er die „Agenda 2010“ vertreten musste.  Diese Agenda wurde mit ihren sozialen Fehlkonstruktionen von vielen als rechter „Putsch von Oben“ gewertet (in den Worten von Franz Müntefering: „Das wäre sonst zerredet worden“), der für die herben Verluste der SPD bei Mitgliedern und Wählern sowie für das Erstarken der Linken verantwortlich gemacht wurde.

Vor vielleicht 15 Jahren habe ich Olaf Scholz auf einem Parteitag getroffen und ihm unter Zeugen gesagt: „Mensch, Olaf. Als Stamokap-Mann warst Du links daneben, als Agenda-Mann warst Du rechts daneben. Wenn Du die Mitte findest, bist du nicht aufzuhalten!“ Danach wurde mir gesagt, es dürfe mich nicht wundern, dass ich so wenige Freunde habe. Aber das war damals doch eine gute Karriereberatung.  

Olaf Scholz ist weder ein Opportunist noch ein inhaltsleerer Pragmatiker. Er ist seit über 40 Jahren in seinen Funktionen vom Juso bis zum stellvertretenen Parteivorsitzenden der SPD mit der sozialdemokratischen Programmatik (und der sozialistischen Theorie) intensiv befasst. Er war jahrelang in einer öffentlich wenig wahrgenommenen Schlüsselrolle: als Vorsitzender der Antragskommission auf SPD-Bundesparteitagen, ohne deren zustimmendes Votum es nur wenige Parteitagsbeschlüsse gegeben hat. Dieses Gremium ist die Filter-Instanz für alle inhaltlichen Initiativen von wem auch immer. In der Regel wird nicht über das Anliegen eines Antragstellers, sondern über das Votum der Antragskommission abgestimmt nach dem Motto: „Die Antragskommission empfiehlt die Ablehnung. Wer ist dafür?“ Das Votum „Ja“ bedeutet dann ein „Nein“ zum vorgetragenen Anliegen und macht es den Delegierten einfacher, die Übersicht zu behalten (oder „staatstragend“ im Sinne des Parteivorstandes abzustimmen). Insofern gibt es nur sehr wenige Sozialdemokraten, die die Inhalte der SPD in den letzten Jahren mehr prägen konnten als Olaf Scholz – nicht als Chefideologe, aber als Aushandler von Kompromissen, die den Laden zusammengehalten haben. Zu diesem Geschäft gehören dann auch Niederlagen, die nicht unbedingt weh tun. Ein Beispiel: Die Jusos wollte mit Macht einen Beschluss des Parteitages zur Vermögenssteuer. Die Antragskommission hat das abgelehnt. Olaf Scholz hat zur Begründung erklärt, er sei zwar ein Fan dieser Steuer, aber sie sei nicht durchsetzbar und brauche deshalb auch nicht beschlossen zu werden. Er hat die Abstimmung gegen die damalige Juso-Chefin Franziska Drohsel verloren, die sinngemäß sagte: „Wenn alle Fans dieser Steuer sind, dann sollten wir sie auch beschließen“. Olaf Scholz konnte damit wohl leben.

Olaf Scholz hat für die SPD als Spitzenkandidat in Hamburg bei Landtagswahlen die nach Sitzen absolute Mehrheit erreicht (2011), als es für die SPD nirgends mehr sehr gut aussah. Der langjährige (1988-1997) Hamburger SPD-Bürgermeister Henning Voscherau, der sich selbst in der Tradition von Helmut Schmidt sah und zu den Parteirechten zählte, wurde irgendwann zu dem Hamburger Wahlsieg von Olaf Scholz interviewt. Die Frage lautete, ob es für die SPD heißen könnte: „Von Olaf Scholz lernen heißt, siegen lernen“ – weil Olaf Scholz mit seiner Politik des Setzens auf Innere Sicherheit, Wirtschaftsfreundlichkeit und soziale Gerechtigkeit das Interesse der Wähler perfekt bedient hätte. Henning Voscherau hat eine diplomatische Antwort gefunden und nicht gesagt: das war doch schon immer mein Motto, das war mein Erfolgsrezept - schön, dass Olaf das jetzt auch begriffen hat.

Als Hamburger Bürgermeister hat Olaf Scholz seine Bremer Parteifreunde u. a. am 6. März 2013 besucht und mit einem klaren Votum für die Schuldenbremse überrascht. Seine Überzeugung: Die Schuldenbremse führe am Ende zu einem Demokratie-Gewinn, weil sie Debatten über die staatlichen Ausgaben und deren Finanzierung provoziert: was will man mit welcher Priorität, wie soll es finanziert werden? Das Fazit von Olaf Scholz: “Die Schuldenbremse ist links”.

Seit seiner Zeit bei den Jusos hat Olaf Scholz die Glaubwürdigkeit seiner Ankündigung immer wieder unter Beweis gestellt: „Wer bei mir Führung bestellt, der bekommt auch Führung“. Das hat er in der Regierungspraxis mitsamt Krisenmanagement als Ministerpräsident des Bundeslandes Hamburg und als Bundesminister erst für Arbeit (mit der Finanzkrise nach 2008) und für Finanzen (mit der Pandemie nach 2019) so gut hinbekommen, dass ihm eine erfolgreiche Arbeit als Bundeskanzler zugetraut wurde. In das Amt ist er vor allem deshalb gekommen, weil die CDU mit Herrn Laschet und die Grünen mit Frau Baerbock angetreten sind. Dennoch: der Einzug ins Kanzleramt ist die Meisterleistung eines politischen Marathon-Mannes.

Parteiintern kann die These der „No-Groko-Bewegung“ als widerlegt gelten, die den Gewinn der Regierungsmehrheit nur aus der Opposition heraus für möglich hielt (was ja schon für Willy Brandt nichtzutreffend war). Und natürlich kann der Kanzler Olaf Scholz mit einem SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert leben. So radikal wie dieser war Olaf Scholz in seiner Jugend allemal – nur dass der Kanzler gesichert einen sehr breiten Hintergrund auf dem Gebiet der sozialistischen Theorie hat, Kritik interpretieren kann und Lernprozesse von jungen Linken sicher fördern wird. Die Machtfrage in der SPD ist bis auf weiteres entschieden, und Olaf Scholz wird so schlau sein, linke Kritiker nicht (wie Gerd Schröder) aus der Partei(-führung) zu drängen.

Eine Trennung von Regierungs- und Parteiführung hat durchaus Vorteile für alle Seiten: die Partei darf kritisch und visionär sein, die Regierung handelt pragmatisch. Problematisch wird es erst, wenn gesellschaftliche „Großkonflikte“ die Partei spalten und die Repräsentanten der Regierung eher als „Rechts“ und starke Kräfte in der Partei eher als „Links“ auftreten. Solche Differenzen durchziehen die Geschichte der SPD seit ihrer Gründung und haben immer wieder zu Lähmungen oder gar Spaltungen der Partei und zu Wahlniederlagen geführt. Der Mechanismus ist zwar allgemein bekannt, wurde aber nie außer Kraft gesetzt: die Partei formuliert Ideale und Ziele, die Vertreter der Partei in der Regierung können diese nicht umsetzen („Erst das Land, dann die Partei“ oder „Man muss dem System geben, was das System braucht“), sie werden von ehemals linken Idealisten zu rechten Pragmatikern, sie werden nach Niederlagen von den dann neuen „Linken“ abgelöst, diese kommen in eine Regierung, und das Spiel beginnt von vorne. Dem ehemaligen Juso-Bundesvorsitzenden und Gründungsrektor der Bremer Universität, Thomas von der Vring, wird die Entdeckung eines vordergründig offensichtlichen politischen Naturgesetzes zugeschrieben: „von links unten nach rechts oben“. Das trifft natürlich nicht für alle zu und charakterisiert in der Regel weniger die Moral von Personen als vielmehr unterschiedliche Rollenanforderungen, aber auch Lernprozesse. Es wird immer gerne vergessen, dass z. B. Willy Brandt in seiner Jugend zunächst in der linken SPD-Abspaltung SAPD aktiv war, bevor er in der SPD als „Modernisierer“ an der Durchsetzung des als „Rechtsschwenk“ interpretierten Godesberger Programms beteiligt war und dann nach einem Ministeramt in der Großen Koalition 1969 der SPD-Kanzler einer Koalition mit der FDP wurde. Danach herrschte eine politische Aufbruchsstimmung.

Willy Brandt startete 1969 mit 42,7% ins Kanzleramt, Gerhard Schröder begann 1998 mit 40,9%.  Am Ende ihrer Regierungs-Führerschaft hatte die SPD meist Verluste an Wählerstimmen zu verzeichnen. Heute gibt es für die SPD nicht viel Luft nach unten. Für Olaf Scholz wird es nicht einfach werden, mit seinen 25,7% einen Absturz zu vermeiden, wie ihn z. B. die einst mit satten Mehrheiten regierende französische Schwesterpartei erlebt hat – die erreicht heute einstellige Ergebnisse.

Edgar Einemann, 08.01.22

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