Foto Edgar Einemann Prof. Dr. Edgar Einemann

Medien, Medienwirkungen  

Die Medienkritik ist in Deutschland spätestens im April1968 populär geworden – als die von Berlin ausgehende Studentenbewegung der BILD-Zeitung und der gesamten Springer-Presse die Hauptverantwortung für das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke anlastete (Motto: BILD hat mitgeschossen), die Auslieferung der Zeitungen blockierte und mit der Kampagne „Enteignet Springer“ begann. Nach verbreiteter Auffassung nutzten die den Zeitungsmarkt und die öffentliche Meinung beherrschenden Medien ihre ökonomische und politische Macht zur Manipulation der Bevölkerung und zur Hetze gegen Andersdenkende. Irgendwann kam der Gedanke auf, dass Millionen von Bürgern jeden Morgen mit ihrem Portemonnaie abstimmen und die Zeitungen käuflich erwerben würden, mithin ein wie auch immer geartetes Bedürfnis an wie auch immer deformierter „Information“ bestand. Als Gegenstrategie wurde eine Zeit lang eine Anti-BILD-Zeitung produziert und in aller Frühe angeboten – das Projekt erwies sich aber weder ökonomisch noch politisch als erfolgreich und wurde wohl auch aufgrund des damit verbundenen Kraftaufwandes bald wieder eingestellt.          
Der inhaltlichen Unterfütterung der Medienkritik diente damals nicht nur das im SPIEGEL vorabgedruckte (Nr. 2-8/1968) Buch von Hans-Dieter Müller (1968) über den Springer-Konzern, sondern vor allem die gesellschaftstheoretisch fundierte Kulturkritik der „Frankfurter Schule“. Adorno, Horkheimer und Marcuse hatten seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts zu Fragen von Kapitalismus, Ideologie, Kulturindustrie und Aufklärung gearbeitet und wurden (wohl zu ihrer eigenen Überraschung) zu geistigen Vätern der Studentenbewegung, für die die Medienkritik als Teil von Gesellschaftskritik eine zentrale Bedeutung hatte. Viele haben wie Frank Böckelmann (1975) versucht, „Alternativen politischer Aufklärung“ zu entwickeln und in der Massenkommunikation auch ein „potentiell emanzipatorisches Wirkungsinstrument“ (S. 223) gesehen – und wurden zumindest zunächst enttäuscht.

Analysen von Gesellschaft, Medien und Medienwirkungen kreisen um die Frage, ob und wie und in welchem Masse welche Medien zur Stabilisierung von Gesellschaftssystemen und von Herrschaft beitragen und welche Bruchstellen und Alternativen im Sinne von Aufklärung und Emanzipation zur Verfügung stehen. Eine kritische Würdigung der Rolle und der Wirkungen der Medien hat ihr Fundament nicht nur in der Gesellschaftstheorie, sondern auch in der empirisch orientierten Medienwirkungsforschung.

Der langen (über siebzigjährigen) Forschungstradition und der auch international starken universitären Verankerung des soziologisch geprägten Faches "Medienwissenschaften" verdankt die Medienwirkungsforschung (im Unterschied zur Wirkungsforschung auf dem Gebiet der Informationstechnik oder zum Thema "Internet und Gesellschaft") eine Situation, die auch im deutschsprachigen Raum hervorragende systematische Präsentationen des Faches ermöglicht. Unterschiedliche Schwerpunkte und Forschungstraditionen sind wohl dafür verantwortlich, dass z. B. die (industriesoziologisch geprägte) Bewusstseinsforschung im Rahmen der Veränderungen von Einstellungen und Meinungen keine Berücksichtigung findet und bisher in den Standardwerken auch der Aufstieg des Internets zu einem Leitmedium (mit Diskussionen z. B. über Social Media und die Folgen) nur sporadisch Erwähnung findet.
Michael Schenk hat sein Buch zur Medienwirkungsforschung im Jahr 2005 in 3. Auflage mit einer Länge von über 840 Seiten und einem Literaturverzeichnis von mehr als 50 Seiten vorgestellt, das gleichnamige Werk von Bonfadelli und Friemel ist 2011 in 4. Auflage in einem Volumen von 343 Seiten (darunter ein Literaturverzeichnis von ebenfalls mehr als 50 Seiten) erschienen, und Michael Jäckel hat die zentralen Ergebnisse im Rahmen eines Studienbuches zur Einführung auf 434 Seiten zusammengefasst. Zu beachten ist, dass es um das "Spezialgebiet" Medienwirkungsforschung geht und nicht etwa um Medienwissenschaft insgesamt oder gar um Gesellschaftsanalyse. Im Zentrum der Medienwirkungsforschung steht das ehemals neue Medium Fernsehen.
Eine Befassung mit dem Thema ist sinnvoll, auch wenn Bonfadelli in der zweiten Auflage seines Buches zur Medienwirkungsforschung im Jahr 2004 in der Zusammenfassung einen sehr ernüchternden Generalbefund formuliert: „Medieninhalte sind wieder eine hinreichende noch eine notwendige Ursache von direkten Effekten. Der Einfluss der Medien ist im kognitiven Bereich größer als bei Einstellungen. Massenkommunikation verstärkt in erster Linie existierende Einstellungen, aktiviert latente Positionen und verändert mit geringster Wahrscheinlichkeit existierende oder latente Gegenpositionen.“ (S. 283).
Kurze Zusammenfassungen sind angesichts der Komplexität des Themas und des Standes der Forschung wohl so schwierig, dass selbst umfangreiche Darstellungen inzwischen eher darauf verzichten. So findet sich die von Bonfadelli noch 2004 vorgestellte Zusammenstellung der wichtigsten Befunde der Medienwirkungsforschung in der Neuauflage von 2011 nicht mehr, Schenk gibt am Ende seines Buches einen Überblick zum Stand der Forschung und zur Perspektive kognitiver Effekte, und Jäckel hat seine in der Auflage von Jahr 2002 formulierten "Konturen einer Mediengesellschaft" in der neuesten Auflage im Jahr  2011 durch einen "Blick in die Medienzukunft" ersetzt, in der er Abhandlungen zu 10 Beobachtungen unter Einschluss von einzelnen Internet-Entwicklungen vorträgt.
Die Erkenntnisse der Medienwirkungsforschung werden von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich systematisiert, im Kern werden aber die Themen unter gleichen Unter-Überschriften mehr oder weniger umfangreich referiert. Grob unterscheidet z. B. Schenk (2005) zwischen den Wirkungen auf Einstellungen, Emotionen und Kognitionen (erster Teil), Fragen von Massenkommunikation und Interpersonaler Kommunikation (zweiter Teil)  sowie den gesellschaftliche Wirkungen der Massenkommunikation (dritter Teil). Bonfadelli und Friemel (2011) wählen als Überschriften ihrer Hauptkapitel die Mediennutzung, die Medienrezeption und Medieneffekte sowie drei Kontexte von Medienwirkungen (thematische, interpersonale und gesellschaftliche). Jäckel präsentiert eine Differenzierung in 12 Kapitel, wobei er die wichtigsten Theoreme herausgreift und sie um kurze Erläuterungen eher medientheoretischer Ansätze ergänzt. Es geht z. B. um die Herausbildung der Massenmedien, Wirkungsmodelle, spektakuläre Medienwirkungen, die Meinungsführerforschung, die Glaubwürdigkeit der Medien (und den Sleeper-Effekt), die Agenda-Setting-Forschung (und die Erklärung von Priming und Framing), die Wirklichkeit der Medien und die Kultivierungstheorie, die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung (unter Einschluss des Strukturwandels der Öffentlichkeit, der Theorie der Schweigespirale und des Bandwagon-Effekts) sowie die Wissenskluftforschung. Eine vertiefende inhaltliche Darstellung liegt in Form einer Besprechung des Buches von Jäckel vor. Für die bei Schenk (S. 215). zu findende umfangreiche Darstellung der Befunde zur Wirkung von Gewaltdarstellungen oder die bei Bonfadelli/Friemel (S. 98) erwähnte Mediensucht bleibt ebenso wenig Raum wie für „Anwendungsbereiche“, mit denen sich Bonfadelli noch 2004 (Medienwirkungsforschung II) auseinandergesetzt hat: Fernsehnachrichten, politische Propaganda, Informationskampagnen, Werbung, Fernsehen, Online-Kommunikation, Mediengewalt und Risikokommunikation.

In dem Buch von Jäckel (2011) spielen Überlegungen zur Gesellschafts- und Medientheorie nur an einzelnen verstreuten Stellen eine (untergeordnete) Rolle. Sehr viele kritische Befunde oder Behauptungen zur Medienwirkung gehen allerdings auf sehr alte Analysen vor allem aus der „Frankfurter Schule“ der „Kritischen Theorie“ zurück. So haben Adorno, Horkheimer und Marcuse nach ihrer Flucht vor den Nazis schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA damit begonnen, sich  kritisch zu den Entwicklungen im Kulturbereich zu äußern. In dieser Zeit hat  Marcuse in einem Aufsatz den „affirmativen Charakter der Kultur“ (in Deutschland veröffentlicht 1965, S. 56) kritisiert. Adorno und Horkheimer haben 1941/42 im Rahmen ihres Werkes „Dialektik der Aufklärung“ ein Kapitel über die Kulturindustrie mit der Unter-Überschrift „Aufklärung als Massenbetrug“ (in Deutschland veröffentlicht 1989, S. 128) versehen. Hans-Magnus Enzensberger wollte 1962 den Begriff „Kulturindustrie“ durch den Begriff „Bewusstseinsindustrie“ ersetzt wissen (1962, S. 8) und kritisierte ihren gesellschaftlichen Auftrag, unabhängig vom jeweiligen System „die existierenden Herrschaftsverhältnisse, gleich welcher Art sie sind, zu verewigen“ (S. 13).  Habermas hat in seinem Werk über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (erstmals veröffentlicht 1962) die Adorno-Diagnose (1963) des Wandels vom kulturräsonierenden zum konsumkonsumierenden Publikum (S. 193) aufgegriffen und um viele medienkritische Elemente ergänzt. Dazu gehören z. B. Hinweise auf die Gefahren der Gleichschaltung und Kommerzialisierung im Gefolge der Pressekonzentration (S. 223), die Beiträge zur Manipulation von Menschen (S. 241) und die Reduktion politisch relevanter Nachrichten durch Unterhaltungselemente (S. 204). Habermas, der in seinem Nachwort zur „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer (1989, S, 281) deren Kulturpessimismus vor dem Hintergrund von deren Eindrücken der Zivilisations-Zerstörung durch Faschismus und Stalinismus erklärt, hat in der Neuauflage seines Buches über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ im Jahr 1990 eingeräumt, die kritischen Potentiale in der Bevölkerung selber zu pessimistisch beurteilt zu haben.
Böckelmann hat schon 1975 den  Ausbau von reflexiven Mechanismen gefordert (die müssten  „weit über die heute gepflogenen feedback-Vorstellungen hinaus ausgebaut und verstärkt werden“, S. 228) und damit begonnen, damals erkennbare „emanzipatorische“ Möglichkeiten aufzuzeigen. Reflexiv waren für ihn Prozesse der Themenselektion, der Rückkoppelung von sozialer Interaktion und Massenkommunikation, der redaktionellen Demokratie und die Berücksichtigung möglicher Reaktionen der Empfänger durch die Sender. Er plädierte für eine Ausweitung der Mitbestimmung und der Publikumsbeteiligung (S. 263) sowie für eine Ausweitung der „Interaktion als Massenkommunikation“ (S. 290). Er sah auch in der „face-to-face-communication“ ein Moment der Massenkommunikation“ (S. 291), verwies auf die vielen „Beziehungsbereiche der direkten, nicht über Medien verlaufenden Kommunikation“ (S. 295) und die sich abzeichnenden neuen technischen Möglichkeiten (Kommunikationskanäle „von unten“). Erwähnt werden eigene Sendekanäle z. B. für engagierte Gruppen (S. 298), Offene Kanäle (S.301) und die Nutzung von Rückkanälen in Kabelnetzen (S. 301). Er verwies auf die Ideen von Brecht aus dem Jahr 1932 (wieder veröffentlicht 1968) und von Enzensberger (1970), für die jeder Empfänger ein Sender sein sollte und die die Medien von Distributionsapparaten zu Kommunikationsapparaten des öffentlichen Lebens machen wollten (S. 302).
Dieser Vision kommen die Neu-Entwicklungen des Internets nahe, die mit Begriffen wie „Web 2.0“ und „Social Media“ verbunden werden und einen wirklichen Strukturwandel der Öffentlichkeit und eine „Medienrevolution“ (Möller 2005) bedeuten. Theoretisch kann jeder Mensch ein Sender werden, in sozialen Netzwerken wird horizontale Kommunikation organisiert, es entsteht eine neue Form von Öffentlichkeit. Transparenz, Demokratie und Partizipation bekommen bei aller Kritik z. B. durch Google, Facebook, Twitter, Wikileaks und Wikipedia eine neue Dimension (z. B. Fuchs 2014). Es kommt zu massiven Verschiebungen von Machtverhältnissen in der Gesellschaft mit mehr „Communication Power“ für alternative Bewegungen (z. B. Castells 2009). Oppositionelle Kräfte wie die Indignadas in Spanien oder die Occupy-Bewegung haben neue Chancen, und Revolutionen wie im „arabischen Frühling“ verdanken ihren Erfolg zumindest zu einem Teil der Unterstützung durch neue technische Möglichkeiten  (z. B. Castells 2012).
Mit den neuen emanzipatorischen Möglichkeiten des neuen Leitmediums Internet hat sich die „klassische“ Medienkritik natürlich nicht von selbst erledigt, und die kritische Auseinandersetzung mit den Problemen der Internet-Kommunikation steht erst am Anfang. Aber alles spricht dafür, die beiden Seiten der Medaille im Blick zu haben: die der auch mit zweifelhaften Methoden betriebenen Herrschaftsstabilisierung und die der emanzipatorischen Aufklärung.        
Mein Anliegen ist seit langem, die emanzipatorischen und aufklärerischen Elemente der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu nutzen. Erste Überlegungen zum Selbermachen von Fernsehen und den Aufbau von Rückkanälen haben wir 1980 für die lokale Ebene vorgestellt (Müller et. al 1980), in der letzten Zeit haben die Möglichkeiten des Web 2.0 (Einemann 2008) ihre Auswirkungen auf Wahlkämpfe eine Rolle gespielt (Einemann 2011, 2012).

        
Für die Analyse von Medien und Medienwirkungen haben sich zwei Übersichten als hilfreich erwiesen, die zunächst grob auf die Einbindung der Medien in die Gesellschaft hinweisen und dann unter dem Aspekt der Medienwirkungen differenzieren zwischen Interessen von Akteuren (auch der Medien selber), den eingesetzten Instrumenten und Aktivitäten, den Wirkungen bei einzelnen Personen und dem Publikum sowie der Subjekt-Konstitution mit den individuellen und kollektiven Interessen der „Betroffenen“. Einzelne Theoreme der Medienwirkungsforschung können einzelnen Wirkungszusammenhängen zumindest grob zugeordnet werden. Beide Übersichten wurden erfolgreich als Leitfäden für die Analyse und von Filmen mit einem Bezug auf Medienwirkungen eingesetzt.

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