Hartung, Rudolf (gestorben am 07.12.2020)
Wenn man im Internet nach „Rudolf Hartung“ sucht, findet man bei Wikipedia den relativ knappen Hinweis auf einen am 7. Dezember 2020 verstorbenen Politiker der SPD, der unter anderem Bundessekretär (1977-1982) und Bundesvorsitzender (1982-1984) der Jungsozialisten war. Bei der Google-Suche folgen nach dem Wikipedia-Eintrag nur noch Treffer zu einem gleichnamigen Komponisten und einem gleichnamigen Schriftsteller. Aber: eine gezielte Suche in der Rubrik „Anzeigen/Trauer“ der Frankfurter Rundschau führt zu einer Traueranzeige in der Frankfurter Neuen Presse vom 19.12.2020, die einen Eindruck von der wichtigen Rolle Rudolf Hartungs beim Generationen- und (zumindest temporären) Politikwechsel der SPD vermittelt.
Wenn über 60 Personen („Die 78er Jusos und viele Freundinnen und Freunde“) eine überregional erscheinende Traueranzeige zu einer für sie wichtigen Person veröffentlichen, dann ist das natürlich ein (beabsichtigtes) politisches Statement. Trauernde müssen sich nicht lieben, und sie müssen nicht (mehr) einer Meinung sein; aber sie liefern zumindest einen Hinweis auf eine gewisse Verbundenheit, vielleicht auch gemeinsame Wurzeln. Zu den Unterzeichnern gehören u. a. drei (Partei-)Freunde, die 1993 alle gerne den SPD-Vorsitz übernommen hätten; zwei von ihnen haben das früher (Rudolf Scharping, 1993) oder später (Gerhard Schröder, 1999) geschafft, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Rudolf Scharping wurden 1998 Mitglieder der rot-grünen Bundesregierung von Kanzler Gerhard Schröder. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren die drei am Ziel ihres „langen Marsches“ - in die Führung der SPD und darüber auch an die Spitze des Staates. Der als gescheitert geltende Rudolf Scharping hat es als Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl 1994 immerhin auf 36,4% der Wählerstimmen gebracht, Gerd Schröder 1998 sogar auf 40,9%. Davon wagt man in der SPD heute nicht einmal mehr zu träumen.
Wieczorek-Zeul, Scharping und Schröder hatten nach der „Linkswende“ der Jungsozialisten von 1969 zentrale Rollen in der Jugendorganisation: als Bundesvorsitzende (Heidi Wieczorek-Zeul von 1974-77 und Gerd Schröder von 1978-80) oder als Stellvertreter im Bundesvorstand (Rudolf Scharping 1974-76). Und hier liegt die öffentlich wenig beachtete Verbindung zu Rudolf Hartung.
Rudolf Hartung war ein wichtiger Repräsentant der größten von 3 Juso-Strömungen (den „Reformsozialisten“, zu denen sich auch Wieczorek-Zeul und Scharping zählten); 1978 wurde der von den ehemals weiter links angesiedelten „Antirevisionisten“ kommende Gerhard Schröder zum Juso-Bundesvorsitzenden gewählt und bekam Rudolf Hartung als „Bundesgeschäftsführer“, in heutigen Begriffen als Generalsekretär, an die Seite gestellt. Eine solche Position bedeutete eine hauptamtliche Anstellung beim Parteivorstand der SPD und eine Beteiligung am Politik-Geschäft der Bonner Parteizentrale. Dort blieb Rudolf Hartung als Mitarbeiter, später als Leiter des Referats Organisation und stellvertretender Leiter der Abteilung Organisation bis 1993. Seine langjährige Funktion als Vorsitzender des Betriebsrats der „Baracke“ unterstreicht seine parteiinterne Machtposition. Rudolf Hartung war das, was man heute einen „Netzknoten“ nennt. Er kannte viele, konnte viel durchsetzen und bei Bedarf auch viel verhindern. Er war ohne jeden Zweifel einer der wichtigsten Organisatoren des Aufstiegs von Jungsozialisten innerhalb der SPD. Ohne Menschen wie ihn (und sehr viele andere) hätte der „lange Marsch durch die Institutionen“ (zumindest in Bezug auf die Karrieren einiger der „Marschierer“) keinen Erfolg gehabt.
Rudolf Hartung war nicht eitel, aber machtbewusst - nicht für sich, sondern für seinen „Verein“. Er hat (wohl immer) politische Überlegungen vor persönliche Kalküle gestellt. Solche Typen gibt es leider zu selten. Er hat es verdient, dass seine alten (Partei-)Freunde ihn würdigen.
Ach so: warum das so bemerkenswert ist? Weil das unter Parteifreunden mit der Freundschaft so eine Sache ist. Sie wird gesichert gepflegt, solange sie dem persönlichen Aufstieg dient. Aber Scharping hat als Parteivorsitzender den lieben Gerd Schröder als wirtschaftspolitischen Sprecher des Vorstands gefeuert. Rudolf Scharping wurde von Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender gestürzt, dann von Schröder als Verteidigungsminister zunächst berufen und später weggeschickt. Und so weiter und so weiter….
Persönliche Zusatz-BemerkungZu der von ihm stark mitgeprägten Juso-Strömung der „Reformsozialisten“ habe ich auch gehört, als ich von Björn Engholms Bundesgeschäftsführer (heute: Generalsekretär) Karlheinz Blessing (von der IG Metall und den reformsozialistischen Jusos) gefragt wurde, ob ich als Leiter der Abteilung Organisation in die SPD-Parteizentrale kommen würde. Ich war überzeugt, mit der Zuständigkeit u. a. für die Modernisierung der SPD (Projekt „SPD 2000") einen wichtigen politischen Beitrag leisten zu können. Aber es gab ein Problem: diese Position hatte der altgediente und politisch wie im Apparat mächtige Rudolf Hartung als stellvertretend amtierender Abteilungsleiter lange vor Augen, und er hatte ohne Zweifel, wie es so schön heißt, die „älteren Rechte“. Rudolf hat mich und meine Frau in vielen nächtlichen Telefonaten bekniet, den Job nicht zu machen. Ich war damit einverstanden, die Funktion zu teilen – das konnte er in der Baracke aber wohl nicht durchsetzen.
Angetreten habe ich die Position nach einer Ermutigung durch Peter von Oertzen („Mach das, Du bist der erste linke Organisations-Chef der Partei“) nur aufgrund der für mich gesicherten Erkenntnis: wenn ich das nicht mache, wird es irgendwer – aber niemals Rudolf Hartung. So war ich dann 1992/93 formal der Vorgesetzte von Rudolf Hartung. Als einer der Netzknoten des reformsozialistischen „Vereins“ mit historischen Verdiensten, als stellvertretender Abteilungsleiter und als Vorsitzender des mächtigen Baracken-Betriebsrats hätte er jeden Abteilungsleiter schnell zum Aufgeben bringen können. Hat er aber nicht gemacht.
1993 hat Rudolf Hartung die „Baracke“ verlassen, um in Berlin Landesgeschäftsführer der SPD zu werden. Es gab eine Veranstaltung zum Abschied. Für mich war es als Angehöriger der Arbeitgeberseite und „Counterpart“ des Betriebsrates eine Ehre, dass ich nach dem Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing die Rede des Vertreters der Arbeitnehmer halten durfte – vielleicht politisch nicht schlau, mir aber ein persönliches Bedürfnis auch als Dank an Rudolf Hartung.
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