Edgar Einemann

Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz. München: Droemer.

Manfred Spitzer geht es in seinem Buch mit dem provokanten Titel "Digitale Demenz" im Kern um die Kinder (und Jugendlichen). Er ist überzeugt, dass die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und des Gehirns durch die Nutzung von Computern, mobilen Geräten und Internet gestört, behindert und sogar verhindert wird. Es geht ihm um einen eindringlichen Warnruf.

Spitzer hat Medizin und Psychologie studiert, ist in Psychiatrie habilitiert und leitet (zumindest 2012) die Psychiatrische Universitätsklinik Ulm. Er gilt als besonders kompetenter Gehirnforscher.

Er selbst hat keinen Fernseher und hält nicht viel von diesem Medium (S. 200). Im Vorwort widmet er das Buch seinen Kindern und will daran mitwirken, ihnen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen (S. 9). "Auch hierzulande wird mit Medienkonsum mehr Zeit zugebracht als in der Schule (knapp vier Stunden). Eine ganze Reihe von Studien zum Medienkonsum zeigt mittlerweile überdeutlich, dass dies im höchsten Maße Anlass zur Besorgnis geben sollte. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Es wird in den Augen vieler Menschen ein unbequemes Buch sein, ein sehr unbequemes. Als Psychiater und Gehirnforscher kann ich aber nicht anders. Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in zwanzig Jahren vorhalten: »Papa, du wusstest das alles — und warum hast du dann nichts getan? «" (S. 12).

Spitzer hat seine Kritik vorgetragen und radikale Vorsachläge gemacht, sich damit aber in der Praxis bisher nicht durchgesetzt - er beklagt seine parteiübergreifende Nicht-Beachtung ausführlich (S. 276-295). Auch Ministerien, Kirchen, Wissenschaft und Amnesty International ignorieren die Dimension des Problems. Aber Spitzer hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben (S. 294) und glaubt: "Im Grunde könnte es also einen Konsens aller politischen Kräfte geben, der drohenden digitalen Demenz entgegenzuwirken." (S. 295).

Ein wissenschaftliche gestütztes Buch zu einem Kernproblem der Zeit mit einer Länge von 367 Seiten kann in einer kurzen Besprechung nicht angemessen gewürdigt werden; dieser Versuch wird unternommen, weil sonst über den (leicht falsch zu verstehenden) Titel hinaus wahrscheinlich nur wenige Gedanken von Spitzer in die politische Diskussion kommen (nicht erst seit Spitzers Thesen weiß man, dass kaum jemand ein Fachbuch mit 367 Seiten liest).

Spitzer definiert Demenz als geistigen Abstieg: "Hier nimmt die geistige Leistungsfähigkeit letztendlich deswegen ab, weil Nervenzellen absterben." (S. 52) - und "wie bei jedem Abstieg hängen dessen Länge und Verlauf davon ab, von wo man absteigt." (S. 52). Da sich das Gehirn (vereinfacht gesagt) im Laufe des Lebens permanent verändert und bestimmte Teile sowohl wachsen als auch absterben können (z. B. S. 56), spielen die geistigen Aktivitäten eines Menschen und die frühen Entwicklungen eine zentrale Rolle. Für Alarm sorgte bei Spitzer u. a. eine Meldung aus Korea; dort verzeichneten Ärzte "bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Sie nannten das Krankheitsbild digitale Demenz." (S. 8).

Im Ergebnis hält Spitzer digitale Medien in Bildung und Ausbildung für "Lernverhinderungsmaschinen" (S. 91), die "den Lernerfolg beeinträchtigen und damit den Kindern schaden" (S. 94). Auch "Baby-TV und Baby-DVDs sind für die intellektuelle Entwicklung von kleinen Kindern schädlich" S. 147) - wenn man Kleinkinder "vor ein Bildschirmmedium setzt, dann kann man sie in dieser Zeit im Grunde auch in den Kohlenkeller sperren." (S. 145). Weder Laptops im Kindergarten noch Spielekonsolen leisten einen Beitrag zur Bildung (S. 194).

Die negativen Folgen der Nutzung von Computern, Medien und Internet erläutert Spitzer differenziert. Dazu gehören:

Spitzer selbst fasst seine Diagnose so zusammen: "Digitale Medien haben ein hohes Suchtpotenzial und schaden langfristig dem Körper (Stress, Schlaflosigkeit, Übergewicht — mit allen Folgeerscheinungen) und vor allem dem Geist. Das Gehirn schrumpft, weil es nicht mehr ausgelastet ist, der Stress zerstört Nervenzellen, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Die digitale Demenz zeichnet sich im Wesentlichen durch die zunehmende Unfähigkeit aus, die geistigen Leistungen in vollem Umfang zu nutzen und zu kontrollieren, d.h. zu denken, zu wollen, zu handeln — im Wissen, was gerade passiert, wo man ist und letztendlich sogar wer man ist. Ein Teufelskreis aus Kontrollverlust, fortschreitendem geistigem und körperlichem Verfall, sozialem Abstieg, Vereinsamung, Stress und Depression setzt ein; er schränkt die Lebensqualität ein und führt zu einem um einige Jahre früheren Tod." (S. 296).

Eine gute Zusammenfassung liefern auch die Texte des Verlages im Buchumschlag: "Ohne Computer, Smartphone und Internet geht heute gar nichts. Das birgt immense Gefahren, denn bei intensiver Nutzung baut unser Gehirn ab. Kinder und Jugendliche verbringen mit digitalen Medien mehr als doppelt so viel Zeit wie in der Schule. Die Folgen sind Sprach- und Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Stress, Depressionen und zunehmende Gewaltbereitschaft... Digitale Medien schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir nur noch googeln, surfen, chatten und posten, lagern wir geistige Arbeit aus. Gedächtnis und Konzentration lassen nach. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert und Oberflächlichkeit antrainiert. Insbesondere Jungen erliegen immer häufiger der Computerspielsucht. Die sozialen Online-Netzwerke locken mit virtuellen Freundschaften, doch in Wahrheit beeinträchtigen sie das Sozialverhalten und fördern Depressionen. Angesichts dieser bedenklichen Entwicklung nimmt Manfred Spitzer Eltern, Lehrer und Politiker in die Pflicht."

Spitzer kritisiert die dominierenden Vorstellungen zur Förderung von Medienkompetenz (S. 115, 294, 305) und schlägt u. a. vor:

Die Thesen von Spitzer sind wohlbegründet und ernst zu nehmen. Sie verdienen eine intensive Diskussion (die hier nicht geführt werden kann). Auch wenn Spitzer seine Kritik sehr radikal formuliert: es geht ihm letztlich um die Gestaltung der Technik-Nutzung und nicht um deren Verhinderung (S. 9, 26, 296).

Eine gute Grafik zur Gehirnbildung:

(Spitzer 2012, S. 298)